Schilf

"Das Warten […] ist ein intimes Zwiegespräch mit der Zeit. Langes Warten ist mehr als das; ein Zweikampf der Zeit mit ihrem Erforscher. Wenn Sie, meine Damen und Herren, das nächste mal im Studentensekretariat um eine Auskunft anstehen, nehmen Sie kein Buch mit. […] überlassen Sie sich der Zeit, unterwerfen Sie sich, liefern Sie sich ihr aus. Diskutieren Sie mit sich selbst die Länge einer Minute. Finden sie heraus, was zum Teufel das Gerät an ihrem Handgelenk mit Ihnen selbst zu tun hat. Fragen Sie sich, was dieses Warten sein soll: ein Verrat an der Gegenwart zugunsten eines Geschehens in der Zukunft? […] Aber was ist Gegenwart? […] Beim Warten werden Sie feststellen, dass ein gegenwärtiger Augenblick nicht existiert. Dass er immer schon vorbei ist oder noch gar nicht ganz da, wenn Ihr Verstand nach ihm zu greifen versucht. Vergangenheit und Zukunft […] sind direkt aneinandergenäht. Aber wo, […] befindet sich dann der Mensch? Gibt es uns in Wahrheit gar nicht? […] Sind wir gar nicht wirklich da, weil des Zeitkostüm keine Löcher für Kopf und Arme besitzt? […] Das warten […] besteht aus unzähligen Schichten. […] Sie warten auf besseres Wetter, glücklichere Zeiten und die große Liebe. Wir alle warten, ob wir wollen oder nicht auf den Tod. Die Wartezeit sämtlicher Etappen vertreiben wir uns mit allerhand Beschäftigungen. […] Das Leben besteht aus Warten, das Warten nennt man Leben. Warten ist Gegenwart. Warten ist jenes Durchgangsstadium, das wir als unsere Existenz bezeichnen!"

Auszug aus: Juli Zeh 2007:'Schilf'. frankfurt a.m., schöffling & co., 115-116